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2. Sitzung: Pioniri maleni / Die kleinen Pioniere
Heute möchte ich euch einige Dokumentarfilme von Želimir Žilnik und Dušan Makavejev zeigen. Beide Regisseure stammen aus Belgrad. Žilnik studierte Jura und Makavejev Psychologie. Makavejev war zunächst Mitglied des Kino-Klubs Beograd, später Professor an der Hochschule für Film, Theater, Radio und Fernsehen in Belgrad, schrieb Filmkritiken und filmtheoretische Texte für die Zeitschrift Film danas (Film heute). Die Belgrader Filmhochschule wurde nach dem zweiten Weltkrieg gegründet und war eine der wenigen von fünf oder sechs dieser Art in der ganzen Welt. Die erste entstand 1919 in Moskau. An der Belgrader Hochschule wurde Film vom Anfang an als Kunst und nicht als Handwerk aufgefasst. Die besondere Ästhetik, die mit dieser Entscheidung zusammenhängt, ist in den Filmen, die wir uns anschauen wollen, deutlich zu erkennen. Neben Makavejev verfassten auch andere Filmemacher, wie Aleksandar Petrović oder Živojin Pavlović die filmtheoretischen Texte und Filmkritiken und waren gleichzeitig an die akademische Institution, an die Hochschule gebunden. Auch auf diese Weise wurde das Spezifische des jugoslawischen Weges, in der Politik und in der Kunst, unterstrichen. Denn, das kritische und beobachtende Schreiben für eine Filmzeitung, die mit der Leidenschaft eines Cineasten zusammenging, könnte man als westliches Model betrachten, ein Model welches die Regisseure der französischen Nouvelle Vague um die Zeitschrift Cahiers du cinéma praktizierten und berühmt machten. Die institutionell- akademische Variante konnte man dagegen vielmehr als osteuropäische, hinter dem sogenannten Eisernen Vorhang praktizierte Praxis betrachten. Das jugoslawische Model mag ein Produkt des Zufalls und der äußeren Zustände sein, vereint in sich aber in der Tat sehr erfolgreich die beiden scheinbar gegensätzlichen Systeme und spiegelt damit die geopolitische und kulturelle Position des sozialistischen Jugoslawiens wieder. Ob man es will oder nicht, man muss hier an die Politik des jugoslawischen Präsidenten Tito, eines moderaten Diktators (und leidenschaftlichen Cineasten!), denken, der sein Land zu einem blockfreien Staat machte, in dem er sich 1948 mit dem historischen Nein zu Stalin von dem Einfluss der Sowjetunion loslöste und die führende Position der sowjetischen Kommunistischen Partei unter den sozialistischen Ländern ablehnte. So stand Jugoslawien, spätestens ab 1952, nicht nur zwischen dem Orient und Mitteleuropa, im territorialen, kulturellen und religiösen Sinne, sondern auch politisch irgendwo dazwischen (so lautete auch der Titel eines Films von Srđan Karanović aus dem Jahr 1983, Nešto između), zwischen Osten und Westen, und im Laufe der Zeit immer mehr zwischen Sozialismus und Kapitalismus.
Die kritischen Filme gewannen regelmäßig Preise, auch in Pula, auf dem wichtigsten Filmfestival des Landes, was oft als ein Gegenargument für die weitverbreitete These über die absolute Unmöglichkeit der Kritik des Tito-Regimes, diente. Zudem, interessant zu erwähnen, gab es an der besagten Hochschule für Film, Theater, Radio und Fernsehen, an der die meisten kritischen Filmemacher unterrichtet haben, kein einziges Parteimitglied, nicht einmal in der Verwaltung. So konnte jeder Regisseur relativ frei entscheiden, was und wie er darstellen und drehen möchte. Dies gilt zumindest für die zweite Hälfte der 1960er Jahre. Denn die Lage änderte sich ständig, so dass man von einer Kontinuität nicht sprechen kann. Beispielsweise nutzte die Parteiführung um Tito, die Abrechnung mit den innerparteilichen Abweichlern, um die hart erkämpften Freiheiten im kulturellen Bereich wieder zu streichen (in Serbien waren es die sogenannten serbischen Liberalen um Latinka Perović, in Kroatien die Befürworter und die Anführer des kroatischen Maspok, der Massenbewegung (in Kroatien im positivistischen Sinne kroatischer Frühling genannt) um Mika Tripalo und Savka Dabčević-Kučar. Die neuen Verbote Anfang der 1970er Jahre brachten einige erfolgreiche Regisseure ins Ausland, oder in eine andere Teilrepublik Jugoslawiens, in Žilniks und Pavlovićs Fall war es Slowenien. Andererseits war im Westen alleine der Ruf des Dissidenten schon immer als Zeichen des besonderen Talents verstanden. Makavejev nutzte die Gelegenheit, wie auch Petrović. Von der Vorliebe des Westens profitierte auch Žilnik, der 1969 in Berlin mit seinem Film „Rani radovi“ (Die frühen Werke) den Goldenen Bären gewann. Die Berlinale verfolgt heute noch die Tradition nach der bei der Preisvergabe (ganz gleich wer der Jury angehöre) die politisch-ideologische Botschaft des Films viel bedeutender sei, als der künstlerisch - filmästhetische Aspekt. In Žilniks Film trafen beide Kriterien zusammen, das politisch-kritische und das formal-innovative zusammen.
In der Literatur über den Neuen jugoslawischen Film kann man lesen, dass die politisch-gesellschaftlichen Ziele der Schwarzen Welle von den Theorien, die man in der Zagreber Zeitschrift Praxis (1964-1974) vertrat, beeinflusst worden seien. Auch wenn man ausschließt, dass beispielsweise Petrović oder Makavejev ihre Filme nach philosophischen Grundlagen drehten, trotzdem könnte es interessant sein, nach Gemeinsamkeiten zu schauen. Die Zeitschrift Praxis um den Philosophen und Professor an der Philosophischen Fakultät in Zagreb Gajo Petrović setzte sich, ähnlich wie die Belgrader Regisseure in ihren Filmen, für eine kritische Auseinandersetzung mit der Realität der jugoslawischen Gesellschaft ein, sowie dafür, dass man (auch) die negativ konnotierten Prozesse und gesellschaftlichen Entwicklungen genau untersucht und schonungslos darstellt. Die Zeitschrift Praxis orientierte sich u.a. an Karl Marx, Antonio Gramsci, Georg Lukács, Ernst Bloch, Herbert Marcuse, Erich Fromm und hielt die offen gestaltete und geführte Polemik mit der klaren Problembenennung für überlebenswichtig in Bezug auf die sozialistische Gesellschaft. Von der Kritik sollte niemand und nichts geschont werden. So richtete sich die Kritik des „Praxis“ auch gegen die dogmatisch-leninistischen Fraktion unter den jugoslawischen Kommunisten, die in den 1960er Jahren an der Macht war.
Die kommunistischen Machthaber zogen damals eine relativ unklare Linie zwischen dem Erlaubten und Unerlaubten. So entstand eine graue Zone in der man frei denken und handeln konnte, und gleichzeitig nie wusste, wann die imaginäre Grenzlinie des Erlaubten überschritten wurde. Als eine solche Grenzüberschreitung ist die Gleichstellung von Partisanen und Faschisten oder von Tito und Hitler oder Mussolini, die man, in einem Film beispielsweise, sehr einfach mit den Mitteln der Montage herstellen kann (siehe auch die erste Sitzung und den Laibach-Fall). Der Film Plastični Isus (Jesus aus Plastik), Lazar Stojanovićs Diplomarbeit mit dem Zagreber Performance-Künstler Tom Gotovac in der Hauptrolle, wurde aus einem ähnlichen Grund verboten. Das Verbot sollte aber vielmehr den anderen Filmemachern als negatives Beispiel dienen und sie in ihrer künstlerischen Arbeit unter Druck setzen. Aleksandar Petrović, damals Professor an der Filmhochschule, betreute und unterstützte den jungen Lazar Stojanović als einen seiner Studenten. Nachdem der Skandal mit dem Film Jesus aus Plastik öffentlich gemacht wurde und Stojanović rechtmäßig verurteilt wurde, ging Petrović vorsichtshalber, wenn auch noch freiwillig, ins Ausland, nach Paris. In diesem Zusammenhang ist vielleicht der legendär gewordene, und aus dieser Zeit stammende Satz Titos zu nennen, in dem er den zuständigen Richtern riet, „sich an die Gesetze nicht wie ein Betrunkener an die Mauer blindlings (fest)halten zu müssen“.
Im Ausland drehte Petrović zwei Romanadoptionen, einmal Bulgakows Der Meister und Margarita(1972) und Bölls Gruppenbild mit Dame (1977) mit Romy Schneider. Keine der beiden Filme erreichte den Erfolg seiner in Jugoslawien gedrehten Filme. Das gilt mehr oder weniger auch für die anderen Dissidenten, die zu der Schwarzen Welle zählten. Scheinbar funktionierte die „Kritik der Wirklichkeit“ in Westeuropa nicht so wie zuhause, auch wenn es durchaus Ausnahmen gab, wie das Makavejevs kontroverses Meisterwerk Montenegro.
Aleksandar Petrović vs. Emir Kusturica
Emir Kusturica hat 1989 mit Time of the Gypsies eine Art Hommage an I Even Met Happy Gypsies gedreht. Während bei Petrović die Liebe (und damit ist nicht die körperliche „Liebe“ gemeint, sondern vielmehr das Zwischenmenschliche, das liebevolle Füreinander), kaum eine Chance hat, vor allem weil die Unterschiede zwischen ethnischen Gruppen und sozialen Schichten (die es nach der Parteiideologie gar nicht geben sollte) unüberbrückbar zu sein scheinen, macht Kusturica aus ähnlichen Stoff einen gleichermaßen wunderbaren wie hoffnungsvollen Film. Dem Realismus Petrovićs mischt Kusturica den Zauber und die Magie des Lebens, des Roma-Lebens, bei. In dem trostlosen Dasein der Roma, das durch die Ausgrenzung (teilweise selbstverschuldet) und die Perspektivlosigkeit in die Kriminalität und Brutalität mündet, entdeckt Kusturica eine Welt voller Schönheit und machtvollen Zaubers. Die unheimlichen Kräfte, die sie besitzen oder durch Übungen entwickeln, helfen den Protagonisten zu überleben, aber auch ihre menschliche Würde zu retten.
Bei Petrović dagegen sind alle Figuren allein auf sich selbst gestellt. Die Gesellschaft kümmert sich
um einen nicht, auch die Familie bietet kein Halt. Die Beziehungen sind zerbrechlich, voller Missverständnisse und Streitigkeiten. Auch das wird bei Kusturica anders: Die Familie hält zusammen, und das trotz ständiger Streitereien, trotz Armut und Gewalt, von innen und von außen. Denn die Liebe hat bei Kusturica einen unmessbaren Wert und die Bedeutung, so darf sie ihre magischen
Kräfte entfalten.
Das Mädchen Tisa aus dem I Even Met Happy Gypsies, die Sängerin werden möchte, obwohl sie nicht singen kann (heutzutage ist ein solcher Wunsch allerdings völlig normal geworden), gehört zu den Antihelden-Typus, den man regelmäßig in den Filmen der Schwarzen Welle antrifft. Es sind Menschen, die keine besondere Fähigkeiten haben, die nichts wirklich können und nichts gelernt haben, trotz des Versprechens des Staates, alle Menschen auszubilden und gleich zu behandeln.
Babylonische Sprachverwirrung in I Even Met Happy Gypsies
Wie man weiß, weigerte sich Pasolini die gesprochene Sprache in seinen Filmen einem italienischen, zentralistischen Sprachstandard zu unterziehen und ließ seine Protagonisten im Dialekt sprechen. Er sah damit die Identität der Menschen gerettet. In der Betonung der Unterschiede sah er die Ansätze der Befreiung des Einzelnen.
In I Even Met Happy Gypsies spielt die Sprache eine wichtige Rolle. Wenn man Serbisch (oder Kroatisch) nicht versteht, oder wenn man sich den Film in deutscher Fassung anschaut, dann könnte man denken, dass alle Figuren eine Sprache sprechen. Dabei wird im Film eine ganze Palette der Sprachen gesprochen. Für das Verständnis des Films ist das eine wichtige Information. Denn nicht zu wissen, welche Sprache gesprochen wird, bedeutet hier auch nicht zu wissen wer spricht. Die Roma unterhalten sich untereinander in Roma-Sprache untereinander und benutzen dabei gelegentlich einzelne serbische Worte. Das gilt genauso für andere Volksgruppen, die im Film vorkommen, für die Slowaken, Ruthenen, Türken etc. Vor Gericht, in der Kneipe, im Umgang mit der Polizei und überhaupt im öffentlichen Raum spricht man Serbisch.
Die „Sängerin“ Lisa wird am Ende des Films, nach ihrem unglücklichen Ausflug nach Belgrad, von zwei Männern mitgenommen. In ihrem LKW wird sie von einem der Männer „verführt“ und von dem anderen nach einem Vergewaltigungsversuch geschlagen und beinah getötet. Die Sprache der Männer habe ich zunächst für Ungarisch gehalten. Und das aus gutem Grund: in Vojvodina, wo sich die Geschichte abspielt, leben viele Ungarn. Die Männer aber schienen von einer langen Reise ziemlich genervt und müde zu sein, zudem beschwerten sie sich über die monotone, eintönige weite, endlose, flache Landschaft. So sprach alles dafür, dass sie keine Einheimischen seien, sondern eher Fremde auf der Durchreise. Die Sprache, die sie untereinander sprachen, könnte alsoTürkisch sein. Einer der Männer, der „nette“ mit der Puppe, benutzt einmal das deutsche Wort Zigeuner. Es ist also ein Hinweis darauf, dass zwei Männer in Deutschland, Schweiz oder Österreich lebten.
In Vojvodina, dem autonomen Gebiet zwischen Rumänien, Ungarn, Kroatien und Zentralserbien sind die vielen Sprachen immer noch Realität. Im Film symbolisieren sie, wie die unterschiedlichen Trachten der Volksgruppen, die Vielfalt Jugoslawiens. Vojvodina ist bis heute multiethnisch geblieben, auch wenn sich die Verhältnisse durch den Krieg in den 1990er Jahren verschoben haben. Viele Kroaten verließen Vojvodina, als Teil Serbiens, und gingen nach Kroatien, während im Gegenzug viele geflüchtete Serben aus der kroatischen Krajina und anderswo in Vojvodina eine neue Heimat fanden. Auf ähnliche Weise wurde die zwischen den Kriegsparteien vereinbarte Völkerwanderung, die unter dem Begriff humano preseljenje, „humanitäre Umsiedlung“ bekannt wurde, auch in vielen anderen Kriegsgebieten praktiziert. Das Territorium des Vojvodina wurde zwar, wie auch der Rest Serbiens vom Bruderkrieg verschönt, wurde aber dann doch im Frühling 1999 durch die NATO bombardiert.
Želimir Žilnik: Pioniri maleni (Die kleinen Pioniere, YU, 1968)
Wir schauen uns jetzt den Film Pioniri maleni (Die kleinen Pioniere) von Želimir Žilnik aus dem Jahr 1968 an. Pioniri maleni ist jedem in Jugoslawien bekanntes, berühmtes Kinderlied, das jeder mindestens einmal im Leben, beim Ritual der Initiation nämlich, bei der Aufnahme in den jugoslawischen Pionieren- Verband, gemeinsam mit anderen Kindern, sang. Im Text heißt es auf Deutsch:
Wir, die kleinen Pioniere,
wir sind eine echte Armee,
und mit jedem neuen Tag wachsen wir,
wie der grüne Rasen!
Tod dem Faschismus,
und Freiheit für das Volk!
Auch mich wird meine Mutter
einen Pionier nennen!
Der Entschluss Žilniks, dem Film genau diesen Titel zu geben hat poetische wie subversiv-ironische Gründe. Wir werden gleich sehen warum. Im Film geht es um die obdachlosen Kinder Belgrads, um ähnliche gesellschaftliche Phänomene und Probleme wie in Petrovićs I even met Happy Gypsies. Das Mädchen Tisa und die bettelnden Kinder aus Petrovićs Film werden sozusagen in ihrem Alltag, der nicht in das von der Partei propagierte, idealisierte Bild der jugoslawischen Jugend passt, gezeigt. Die Tatsache, dass es sich um die kleinsten Mitglieder der Gesellschaft handelt, die eigentlich die Hoffnungsträger für die bessere Zukunft sein sollten, schmerzt besonders. Der Film gewann übrigens, trotz (oder gerade wegen) seiner kritischen Haltung, verschiedene Preise, darunter auch den Preis des Verbands der sozialistischen Jugend (SSOJ).
Im Film sehen wir die Obdachlosekinder und Kinder, die in Heimen leben. Eines der Kinder, mit einem amputierten Bein und Krücken, inspirierte möglicherweise Emir Kusturica für die Figur des Schlagzeugers in seinem ersten Film Erinnerst du Dich an Dolly Bell.
Für alle Kinder, die in Jugoslawien aufwuchsen, war es die schlimmste Drohung der Eltern gewesen, in einem Kinderheim leben zu müssen. Fast jeder kannte eines der Heimkinder, oder hatte die üblen Geschichten über sie gehört, über die Gewalt und Brutalität. Die junge Mutter am Ende des Films schickt eine solche Schreckensbotschaft an ihre Kinder und sagt in die Kamerat: „Meine Kinder sind nicht wirklich nett zu mir. Wenn sie so weiter machen, dann kommen sie ins Heim.“
Dabei sehen die Heimkinder so lieb und so nett aus, wie die Kinder in ihrem Alter eben aussehen. Das naive, kindliche Aussehen will aber mit ihren Geschichten, die mal als Voice-Over-Kommentar zu hören sind, und mal von den Kindern selbst erzählt werden, nicht übereinstimmen. Diese Diskrepanz erzeugt das Unwohlgefühl beim Zuschauer. Man sieht Kinder, die spielen und Spaß am Leben haben. Sie sehen fröhlich aus, auch dann wenn sie gemeinsam das Partisanenlied-Klassiker „In einem Tunnel, mitten in der Dunkelheit, leuchtet der rote Stern“ singen. Sie haben aber die eigene Version davon: für sie leuchtet in der Dunkelheit des Tunnels kein roter Stern sondern „eine leere Cognac-Flasche“.
Das erste Lied im Film, das von den Kindern gesungen wird, handelt von der ersten Liebe. Dasselbe Lied wird auch in Petrovićs I Even Met Happy Gypsies gesungen, dort sogar zweimal. Einmal im Dorf und einmal in Belgrad, in einem Treppenhaus, von den Kindern, die als Bettler „arbeiten“. In Pioniri maleni wird die tatsächliche Bedeutung des Begriffs „erste Liebe“ für die Kinder erklärt. Zunächst erzählt ein Mädchen von einem Mann (schnell zeigt sich, einem Pädophilen), den sie als „Schwul“ bezeichnet. Indem sie den Mann als Schwulen bezeichnet, zeigt sie, dass sie ihn als Menschen sowie als Mann nicht schätzt. Als das Mädchen erzählt, dass „wir in den Park gegangen sind, um uns die Schwulen mal anzuschauen“ klingt das humorvoll, ironisch und irgendwie sympathisch. Dann aber erzählt sie den Rest der Geschichte, die keinesfalls lustig ist. Die Liedzeile und das gesamte Lied „Die erste Liebe vergisst man nie“ ist hier also zweierlei. Es ist ein wunderschönes, altes Lied, ein Lied das durch die Kinderstimmen zusätzlich an Wärme gewinnt und unschuldig klingt. Umso bitterer und gnadenloser wirkt es als Kommentar des traurigen Schicksals der allein auf sich selbst gestellten, für sich selbst und die Gesellschaft verlorenen, seelisch und sexuell missbrauchten Kinder.
Der Film entstand 1968. Man wundert sich über die Szenerie, in der die Kinder gezeigt werden. Denn auch wenn der Krieg schon seit 23 Jahren beendet ist, die Kriegsruinen scheinen allgegenwärtig zu sein. Belgrad, die wunderschöne Stadt, die gibt es hier nicht, es existiert scheinbar nur in den Träumen und Vorstellungen, in der Fernsehwelt (siehe die Wohnzimmer-Szene mit der Familie vorm Fernseher aus I Even Met Happy Gypsies).
Kritische Filme wie dieser gewannen Filmpreise, nicht nur im Ausland, sondern auch in Jugoslawien. Da die Dokumentarfilme in Kinos kaum gezeigt wurden, waren sie für die Machthaber völlig ungefährlich. Ganz im Gegenteil, sie dienten in gewisser Weise dem kommunistischen Regime als Beweis, dass die proklamierte Freiheit der Gesellschaft auch eine reale sei.
Želimir Žilnik: Žurnal o omladini na selu zimi (YU, 1967)
Wir schauen uns jetzt noch einen Film von Žilnik an. Der Film hat keine Untertitel, es wird aber ohnehin nicht viel gesprochen, dafür viel gesungen und musiziert. Denn er handelt um, wie der Titel schon sagt, „um das Leben der Jugend auf dem Land im Winter“. Der Titel ist gleichzeitig eine Anspielung auf die, damals populäre, heute fast vergessene filmische Form des Filmjournals.
Am Anfang des Films äußert sich eine ältere Frau negativ über die moderne Jugend, und sagt, dass „früher alles besser war“. Sie sagt aber auch, und das ist die Besonderheit ihrer Einleitung, dass „die Menschen verschiedener Nationalitäten früher viel gemeinsam unternommen haben“. „Und heute leider nicht mehr“ sagt sie noch dazu. Stattdessen seien „alle lieber unter sich“. Diese Aussage wird in weiteren Verlauf des Films nicht weiter thematisiert.
Am Anfang erwartet uns eine ähnliche Situation wie in I Even Met Happy Gypsies: eine verrauchte Kafana, das Kaffeehaus, mit der Band und einer Sängerin, mit den Menschen, die gutgelaunt und betrunken sind. Sie schlagen auch hier, je nach Laune, ein paar Gläser kaputt.
Die Sängerin kann nicht singen. Ihr Aussehen und die anzüglichen Texte der Lieder die sie singt, scheinen das Manko an Talent beim Publikum wettmachen zu können. Sie bringt also doch ihre Leistung. Die Sängerin singt davon, dass ihre Mutter ihr den Ratschlag gegeben hat, mit dem Mann zu gehen, bzw. ihm den Kuss zu geben, wenn er dafür bezahle. Es ist eine sehr direkte Anspielung auf die käufliche Liebe, die hier von der Mutter auf die Tochter anscheinend weitergegeben und empfohlen wird. Das Frauenbild, das die Sängerin sozusagen von sich selbst aufzeichnet, kommt der betrunkenen Kundschaft im Kaffeehaus scheinbar sehr entgegen. (Heute würde man das Handeln der Sängerin hierzulande vielleicht als feministisch bezeichnen, weil sich die Frau über ihre und die Geldgier ihrer Mama „selbstbewusst“ äußert) Die Botschaft des Liedes, eines der zahlreichen Vorgläufer des Turbofolks, ist mit der sozialistischen Moral natürlich nur schwer vereinbar. In einer späteren Szene besingen die Männer ihren sexuellen Wünsche und die Reize der Frau, die sich im Idealfall im Geschlechtsverkehr entfalten sollten. Das große Finale ist der Auftritt einer Rock-Band, die wie die Beatles oder die Shadows aussehen und zunächst auch ähnliche, moderne Pop-Musik spielen. Nach einer Weile kippt die Stimmung und plötzlich wird ein traditionelles Lied, das Kolo-Kreistanzlied gespielt. Es begegneten und vermischen sich damit zwei Weltsichten: die konservativ-traditionelle, rückständig-dörfliche und angeblich modern-weltoffene, fortschrittlich-urbane. Die Band kapituliert, sozusagen, gemeinsam mit seinem Publikum vor Traditionen, die immer noch stark präsent sind, auch wenn sich das Äußere verändert hat. Denn am Ende tanzen sie alle Kolo, in einem Rock-Konzert-Besucher-Outfit, den man vielleicht in einem Klub irgendwo in Westeuropa, vielleicht auch in London, antreffen könnte. Der Konflikt zwischen dem Neuen und Alten, Traditionellen und Modernen wird sich noch verschärfen und lange bestehen, er wird Jugoslawien als Staat überleben.
Nach Titos schicksalhaften Nein zu Stalin, orientiert sich Jugoslawien kulturpolitisch immer mehr in Richtung Westen, so dass die meisten Filme in den jugoslawischen Kinos aus USA und England stammten und nur wenige aus der Sowjetunion und aus dem Osten. Mit der Verbreitung der amerikanischen Pop-Kultur kam auch die Rock-Musik. Goran Bregović wird in den 1970er Jahren mit seiner Band Bijelo Dugme die zwei Optionen verbinden und eine neue, authentische Form schaffen, die die zwei einflussreichen Zagreber Musikkritiker Darko Glavan und Dražen Vrdoljak pastirski rock (Hirten-Rock) nannten. Darüber mehr in einer der nächsten Sitzungen.
Dječaci-„Narodna“(Milan Latković & Danijel Simon, CRO, 2005)
Die Band Dječaci (Knaben oder Buben, kleine Jungs) kommt aus der dalmatinischen Stadt Split in Kroatien. Dječaci sind normalerweise eine Hip-Hop-Band, die eine Art Musik spielt, die zu Dalmatien passt: alles ist irgendwie verlangsamt, träge. Die Jugend ist in Dalmatien von einem südlichen Wind, von der Melancholie des Meeres, vom Wein und leichten und harten Drogen gekennzeichnet. Die Junkies leben ganz ordentlich bei der Mama und bekommen ihre drei Mahlzeiten regelmäßig. Auch in diesem Video spielt der Konflikt zwischen dem Konservativen und Modernen eine Rolle: Schnapskonsum und Lammbratenfeste sind Zeichen der Rückständigkeit und des Konservativen. Die Drogen dagegen gelten als progressiv. In diesem Video geht es aber um mehr.
Ich bin mit ähnlicher Musik aufgewachsen. Vor allem auf Hochzeiten werden ähnlich klingende Lieder gespielt, von mehreren Männern und Frauen gesungen, mit einer Ziehharmonika begleitet. Das Video für das Lied Narodna (Das Volkslied) ist ein vielschichtiges, ein konzeptuelles Werk. In dem Lied wird wieder einmal die Liebe eines Mannes, eines normalen dalmatinischen Macho, zu einer Frau thematisiert. Der Sänger ist voll des (Sonder-) Lobes für die Frau, die er liebt. Er behauptet, er sei betrunken, aber nicht von einer Flasche Schnaps, die er ausgetrunken hat, sondern sie, die Frau, mache ihn betrunken, mit ihrer bloßen Anwesenheit. Er bittet sie, oder besser, er fordert sie auf, auf den Tisch zu springen, ihm den Wein einzuschenken, und die Nacht für ihn durchzutanzen. Dječaci parodieren hier die lokalen Sänger und Stars. Das Vokabular, die Worte, die im Text vorkommen, gehören auch in vielen anderen Liedern zum Standard. Dabei ist die Ironie nicht für jeden erkennbar, obwohl sie teilweise mehr als offensichtlich ist. Dass es dem so ist, zeigen auch die Kommentare unter dem YouTube-Video.
Das Jahr 1989, irgendwo in Dalmatien
Wir sehen unten rechts die Zeitangabe, die Aufnahmezeit. Das Jahr ist 1989. Auch Menschen in Maskieruniformen, mit schweren Gewehren, sind Teil der orgiastischen Tischgesellschaft. Die Stimmung ist sogar für die Balkanverhältnisse etwas übertrieben ausgelassen, eigentlich euphorisch. Die „Fleischfresser“ (siehe die Aussage von Cane in der ersten Sitzung) stehen im Vordergrund. Hier sind eigentlich die Atmosphäre und die geistige Lage in ganz Jugoslawien 1989 dargestellt, im dalmatinischen Kolorit und mit der dalmatinischen Musik unterlegt. Denn, die meisten jugoslawischen Menschen, im Jahr 1989, waren von sich selbst berauscht, von der Zugehörigkeit der eigenen, großartigen Nation. Der Schnaps (leider aber auch die progressiven, angeblich prowestlichen Drogen) kam einfach nur dazu und verstärkte die Wirkung. Die Männer freuten sich, endlich etwas zu erleben und die Frau und die Kinder zuhause lassen zu dürfen, das eigene Heim zu verlassen um jeweils für das eigene, das richtige Volk kämpfen zu können. Auch wenn sie Angst hatten. Die Kommentare unter dem Video deuten darauf hin, dass die meisten Menschen das Video für „echt“ halten. Dabei waren die Mitglieder der Band Dječaci im Jahr 1989 wirklich noch dječaci, also kleine Kinder. Das Video ist tatsächlich erst 2005 entstanden und ist ein fake- für mich ein perfekter. Die Stimmung vor dem Krieg, der Vorkriegsrausch, der hier gezeigt wird, wirkt authentisch, aggressiv parodistisch. Ich kenne keine Dokumentarfilmaufnahmen, in denen dieser Zustand besser dargestellt wäre. Auch die Kommentare sind ein Zeichen dafür, dass das Verwirrspiel gelungen ist. Aber auch dafür, dass die geistigen Zustände, die zum Krieg geführt haben, immer noch präsent und äußerst vital sind. Eigentlich wird die Situation aus dem Žilniks Kaffeehaus aus seinem Filmjournal in das Vorkriegsjahr 1989 versetzt: Man will dem Ende der Welt nicht unvorbereitet entgegentreten, sondern satt, „geliebt“ und besoffen.
Man kann auch sagen, dass das Narodna- Video, die atmosphärisch-inhaltliche, emotionale Ergänzung zu den Videos von Laibach und von Rambo Amadeus (siehe die 1.Sitzung) bietet, Während in zwei oben genannten Videos die politisch-ideologische Seite des Krieges und der nationalen Begeisterung gezeigt wird, sehen wir hier die Wirkung und die vorläufigen Ergebnisse der nationalistischen Ideologien.
Dušan Makavejev: „Parada“ (Die Parade, YU, 1962)
Der nächste Film für heute ist der zwölf Minuten lange Dokumentarfilm Parada (Die Parade, 1962) von Dušan Makavejev. Gezeigt werden die Vorbereitungen für die Belgrader 1. Mai- Parade. Man kann sagen, dass „Parada“ ein Schlüsselwerk im Makavejevs Oeuvre ist, ein Film, das uns im Laufe der Veranstaltung immer wieder begleiten werde.
Die offizielle Kritik an diesem Film, von der Seite der regimetreuen Journalisten lautete: er „entspreche nicht den Tatsachen“ bzw. er zeige nicht das, was wichtig sei, sondern das eigentlich Unwichtige. Hier sehen wir nicht die Parade, wie man sie damals filmte, mit den Panzern, marschierenden Soldaten, mit Gewehren und glänzenden Stiefeln, mit Parolen und einer geschmückten Loge mit Generälen, Politikern und dem großen, unfehlbaren Führer Tito – dem Präsidenten und dem Marschall, dem Vater der Nation und dem größten Sohn unserer Völker. Statt allen diesen wichtigen Dingen scheint sich Makavejev viel mehr für das Nebensächliche, für die Vorbereitungen für das Spektakel, zu interessieren. Wir sehen das Volk, die Bauern und ihre Tiere, die Arbeiter und ihre Familien, man sieht Belgrad in einem anderen Licht, aus einer ungewöhnlichen Perspektive. Wir sehen die Soldaten als Menschen und nicht als marschierende Kriegsmaschinen. Sie sind nicht nur ein Teil des Armeenapparats, dem der Marschall vorstehe, sondern auch ein Teil des Ganzen- wie andere Menschen, sie lachen und sind mal ungeschickt. An prominenter Stelle wird ein Kaufhaus gezeigt, sowie ein Abschnitt des Paradezuges, in dem eher die Konsumfreude des Volkes als die erwünschte und proklamierte Entschlossenheit das Land und das sozialistische System zu verteidigen, zum Vorschein kommt. Die 1. Mai-Paraden in den 1960er Jahren waren vom Kalten Krieg gekennzeichnet, und von eingeschlagenen Dritten Weg Jugoslawiens, damals eines führenden Staates im Bund der blockfreien Staaten. Es ist ein Volksfest, das hier gezeigt wird, die Menschen sind gutgelaunt und haben Spaß an der Vorbereitung und auch am Spektakel. Makavejev zeigt die Parolen und die riesigen Porträts von Lenin, Marx, Engels... Er spielt mit Worten und Bildern auf ähnliche Weise wie es die amerikanische Pop-Art Künstler auch machen werden, und mit einer Leichtigkeit und dem Humor, die an Filme Jacques Tatis erinnern. Man kann sagen, dass die 1. Mai Parade auf ähnliche Weise dargestellt wird, wie Côte d’Azur in Agnès Vardas Du côté de la côte (1958), oder die verschiedenen Institutionen in Frederick Wisemans Filmen in denen er jeweils eine staatliche Institution „porträtiert“.
Der unsichtbare Präsident
Präsident Tito wird im Film zwei Mal gezeigt. Einmal sieht man ihn in seiner Loge, aber „nur“ im Hintergrund des vorbei laufenden Paradezuges. Die Hauptrolle wird ihm verweigert. Die Szene wurde von der anderen Straßenseite aufgenommen. In der zweiten Szene bekommt der Marschall eine kleine Nebenrolle, wenn auch eine wichtige. Das ist die Rolle eines Sekundanten, eines Mannes der gar der Herrscher der Zeit zu sein scheint. Denn man sieht den Marschall in seiner weißen Uniform wie er auf der Strasse auf seine Handuhr schaut. In dem Moment erklangen die Gongs, die so einsetzen, dass man den Eindruck bekommt, der Präsident selbst sei von der Wirkung seines Auf- die- Uhr- Schauens überrascht. Jeder Schlag bringt mit sich einen neuen Schnitt, eine neue kurze Einstellung, ein neues Bild. Der Schnitt verfolgt die Gongs der unsichtbaren großen Uhr.
Eine dritte Szene musste herausgeschnitten werden, nur so dürfte der Film gezeigt werden. In der Szene sieht man Tito wie er aus seiner Limousine aussteigt, während ihm eine Roma-Frau entgegenkommt. Sie bietet dem Präsidenten für einen Dinar an, die Zukunft (des Landes?) vorauszusagen.
Kiša metaka- Konan (CRO, 2012)
An dieser Stelle wollte ich ursprünglich eine Parade aus dem Jahr 1965 zeigen, um die beiden Versionen zu vergleichen. Dann habe ich mich doch anders entschieden. Wir schauen uns stattdessen ein Video, auf dem eine etwa 30 Jahre später gefilmte Militärparade zu sehen ist.
Es sind die 1990er, die Parade aus der kroatischen Hauptstadt Zagreb. Hier ist der Mann in der weißen Uniform in der Hauptrolle. Die treusten Politiker und hoch rangierten Soldaten sind, wie es sich gehört, um ihn herum. Man sieht viele echte Panzer, Kanonen. Das Lied fängt mit der kroatischen Hymne Lijepa naša domovino(Unsere schöne Heimat) an. Die Szenerie macht einen ziemlich ernsten Eindruck und ist ordentlich, klassisch gefilmt. Hier wird nicht das Unwichtige, sondern das Wesentliche gezeigt, wie es sein muss. Der Mann im Mittelpunkt lacht nicht, auch das Volk und die Soldaten erst recht nicht. Die Atmosphäre ist todesernst, hier wird die angebliche Stärke des Landes präsentiert. Die Soldaten marschieren. Es handelt sich um die Feier des Jahrestages des Sieges über die Serben in der Krajina, es wird der militärisch erfolgreiche Aktion Oluja (Der Sturm) in der 200 000 Serben vertrieben und etwa 1200 Zivilisten getötet wurden, gedacht. Der Tag ist ein offizieller Feiertag in Kroatien, in Serbien dagegen ein Trauertag. Der Mann in weißer Uniform ist kein Schauspieler oder ein bezahlter Imitator Titos, sondern sein ehemaliger (vorzeige!)General und der spätere kroatische Präsident, „ der Vater der kroatischen Heimat“ Dr. Franjo Tudjman.
Der Regen aus Kugeln
Wenn man sich das Video genauer anschaut, dann merkt man, dass es geschnitten wurde, dass sich manche Einstellungen mehrmals wiederholen.Es ist noch ein subversiv-ironisches Werk, diesmal von der Band Kiša metaka (Regen aus Kugeln), die eng mit der Band Dječaci befreundet ist
und auch aus Split kommt. Die Mittel der Manipulation sind hier sichtbarer und viel einfacher zu entschlüsseln (wenn auch nicht für alle!). Im Lied wird beispielsweise über den Sommer und über die Sandalen gesungen, während die Stiefel der Soldaten gezeigt werden. Im Refrain wird ein Zitat aus
dem Comic Conan benutzt (Es kommt ein Regen aus Kugeln, und wir werden alle untergehen).
Die Anspielung könnte genauso aus dem berühmten jugoslawischen Partisanen-Comic
Mirko und Slavko stammen.
Mirko und Slavko in der Episode Schneller als Tod
(1966, Ž. Vukosavljević, D. Žižović-Buin)
Im Text des Liedes werden Missstände aus dem kroatischen Alltag beschrieben: Drogenkonsum, Morde, Korruption. Das Lied ist aus dem Jahr 2012, die Video-Aufnahmen aus den 1990er Jahren. Die Botschaft ist klar: es hat sich nicht viel geändert in den letzten 10-20 Jahren. Der kroatische Staat scheint sich immer noch im Krieg zu befinden.
Erstaunlich auch, ein zweites Video, das ich zufällig im Internet gefunden habe. Der unbekannte Autor hat die TV-Übertragung einer weiteren Parade der kroatischen Armee, die am 04.08.2015 stattgefunden hat, mit dem gleichen Lied untermalt, wohl wissend um was es in dem Lied geht. Diesmal sollte das Video nicht die ironische Kritik der Parade sein, sondern, merkwürdigerweise, vielmehr das Gegenteil davon. Der unbekannte Autor hat das erste Video anscheinend sehr gemocht und daraus ein zweites gemacht, ohne es neu zu schneiden. Der kritische Text des Liedes funktioniert natürlich auch hier. Erstaunlich nur, dass der „Autor“, allem Anschein nach ein waschechter Patriot, die einfachen Zusammenhänge nicht verstanden hat. Ein weiterer Beweis, dass das Internet eine ideale Plattform und Kommunikationsmittel ist, auch für ganz dummen unter uns.
Ähnlich wie der Film von Makavejev die Hoffnungen des „jugoslawischen Experiments“ in den 1960ern auf eigene Weise abbildet, beschreiben diese beiden Videos die kriegerisch-trostlose Atmosphäre in Kroatien, aber auch in anderen Balkan-Ländern heute. Bei Makavejev sahen wir die Arbeiter, Bürger und Bauern, die menschliche Wärme und Witz ausstrahlen. Es ist das Mögliche und das Authentische, es sind die Unterschiede, die allen Menschen eigen sind, die mittels spielerisch-lebhaften Montage zelebriert werden. In den anderen zwei Videos scheinen alle Hoffnungen begraben zu sein. Im Letzteren wird die Sturheit, Dummheit und die Lust auf Gewalt zusätzlich mit einer eigenartigen, merkwürdigen patriotischen (Selbst-) Zufriedenheit belegt und „bereichert“. Und das ist das eigentlich Beängstigende.
1 Želimir Žilnik erzählte einmal, dass es in seinem Film Rani Radovi um die Terroristen der Gruppe Baader-Meinhof gehe. Merkwürdig nur, sagte er weiter, dass es die Terroristengruppe zu dem Zeitpunkt noch gar nicht gegeben hätte. Er scherzte und sagte weiter, dass die Terroristen den Film vermutlich auf der Berlinale gesehen haben und so erst auf die Idee des „bewaffneten Widerstands“ kamen.
2I Even Met Happy Gypsies war beispielsweise ein Kinohit, 500 000 Menschen sahen den Film alleine in Belgrad. Die Jugoslawen gingen in den 1960ern gerne ins Kino, im Durchschnitt acht Mal im Jahr.
3Dinar, jugoslawische Währung.
4Als ich zum ersten Mal ein Foto von Franjo Tudjman sah, und das war in der Jugendzeitschrift „Iskra“, in seinem ersten Zeitungsinterview, etwa 1989, einen Mann mit nicht sehr hellem, dafür aber umso strengerem Blick, mit einer altmodischen, dicken Brille, da wusste ich, dass das kroatische Volk sich in diese Person verlieben werde, obwohl es mehrere Kandidaten gab und der General sich erst ziemlich spät in das politische Rennen einschaltete.