4. Sitzung

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4. Sitzung: Ljubavni slučaj ili tragedija službenice P.T.T.

(Ein Liebesfall oder Die Tragödie einer Postbeamtin), 1967

 

Die deutsche Übersetzung des Titels des Films Ljubavni slučaj ili tragedija službenice P.T.T. (1967) von Dušan Makavejev lautet Ein Liebesfall oder Die Tragödie einer Postbeamtin und die englische einfach nur Love Affair. Es sind eigentlich zwei Liebesaffären der hübschen Postbeamtin Isabela (Eva Ras, wir kennen sie bereits aus Makavejevs Film Der Mensch ist kein Vogel): eine etwa mehrere Wochen andauernde Beziehung mit dem Sanitärinspektor Ahmed (Slobodan Aligrudić) und der Seitensprung, der die Beziehung zum Bruch brachte. So wurde aus der vermeintlichen Liebesbeziehung ein Liebesfall – ein Fall für die Kriminalpolizei. Also, wie schon in Der Mensch ist kein Vogel sehen wir hier eine Dreieckgeschichte, dieses Mal mit dem tragischen Ende. Im Film erfährt man einiges über das Leben in Jugoslawien, in Belgrad der 1960er Jahre. Isabel hat nicht viel Geld aber einen festen Job und kann frei über sich selbst entscheiden: auch mit wem sie ins Bett geht.

 

Ein Liebesfall oder Die Tragödie einer Postbeamtin ist ein Collage-Film den Makavejev aus verschiedenen Puzzleteilen zusammen baut. Unterschiedliche Experten kommen zum Wort (der Sexologe, der Mann von der Kripo, der Obduktionsarzt…), wobei der Zuschauer nicht weiß, ob sie „echt“ sind, oder von Schauspielern gespielt werden. Die Experten beleuchten den Mordfall aus verschiedenen Perspektiven, jeder mit der Hilfe seines Fachwissens und einem eigenen Schwerpunkt.

Die Funktion der Experten-Einleitung, die in Čovek nije tica dem Hypnotiseur zugeteilt wird, gehört hier dem Sexualarzt. In seinem Statement erklärt der Sex-Experte, dass die menschlichen Triebe und die unterdrückten Gefühle, die Quelle der mörderischen Gewalt seien. (Den Film kann man in die filmische Tradition der Krimis über die Frauenmörder und die Mörder „aus Leidenschaft“ (z.B. bei Hitchcock) eingliedern.)

 

 

Nach der Einleitung sehen wir das erste Date von Ahmed und Isabela. Im Anschluss an die Szene wird schon das Ende der Liebesgeschichte verraten. Denn anschließend wird Isabelas Leiche aus dem Brunnen geholt. Was bleibt, sind viele Fragen: was genau, wie und warum ist es passiert, und – wer ist der Mörder?

 

Mittels Montage verbindet Makavejev die Frage nach dem Mörder mit den Händen von Ahmed. Man sieht zunächst die Hände in Großeinstellung. Nach einem Schnitt sehen wir das dazugehörende Gesicht - das ist das Gesicht Ahmeds. Sind das wirklich die Hände des Mörders?

 

Nach der Szene mit den im Bett liegenden Liebenden wird Isabelas Leiche im Obduktionssaal gezeigt.

 

 

Die Aufklärung des Mordfalls verläuft parallel mit der Liebesgeschichte, die in Rückblenden erzählt wird. Schließlich münden beide Handlungsstränge in einem großen Finale. Der Zuschauer wird aufgefordert, die eigenen Eindrücke mit den Urteilen von Experten zusammenzufügen, das was geschieht zu vervollständigen und nach weiteren möglichen Erklärungen zu suchen. Denn Hinweise und Informatio-nen sind überall im Film versteckt, mal in der mise-en-scène, auf den Plakaten, Stickereien, im Fernsehen, mal in dem eingeschobenen, zusätzlichen Filmmaterial, das nicht zu dem gespielten Teil

des Films gehört. Politik und Ideologie vermischen sich mit der Haupthandlung. Das Versteckspiel, das sich auf verschiedenen Ebenen treiben lässt, macht den Film zum einen außerordentlichen intellektuellen, und gleichermaßen, unterhaltsamen Vergnügen.

 

Der Zuschauer wird mit permanentem Richtungswechsel konfrontiert und überrascht. Es werden Einstellungen und Bilder zusammengebracht, die man zunächst nicht als verwandt ansieht. In der Szene, in der Isabela mit ihrer Freundin (Ružica Sokić) spazieren geht, halten sie sich für einen kurzen Moment vor einem Kinoplakat auf. Plötzlich taucht an der gleichen Stelle, mit einem Schnitt voneinander getrennt, ein anderes, chinesisches Kino-Plakat auf. Das Plakat verschwindet aber sofort wieder und lässt den Zuschauer ratlos zurück. Die plötzlich erschienen, und noch schneller verschwundenen fröhlichen Chinesen von dem grellen Agitprop-Kinoplakat, treffen sehr bald, in der darauffolgenden Einstellung, auf den Revolutionsführer V. I. Lenin. Die Einstellung mit dem riesigen Porträt von Lenin kennen wir bereits aus Makavejevs Dokumentarfilm Parada (1962).

 

 

Chinesen…

 

 

…und Russen

 

Im Manier der russischen Montagekünstler, insbesondere der Filmstudenten der 1920er Jahre, die aus dem Manko eine Tugend gemacht hatten (sie hatten nicht sehr viel Material, so haben sie sich aus den Readymades, aus den Filmen und Filmjournals bedient, und die Ausschnitte aus dem „fremden“ Material in ihre eigenen Filme eingebaut), benutzt Makavejev hier, neben den unterschiedlichen fremden und scheinbar nicht der Handlung gehörenden Bilder und Filme, auch sein eigenes, nur einige Jahre altes filmisches Archivmaterial.

 

Das Leben als Dauerparade

Der Kurzdokumentarfilm aus dem Jahr 1962 Parada kommt hier nicht nur als Zitat vor, er lebt im Soundtrack des Films weiter. Als Geräusch und musikalische Kulisse, macht sich eine zwar unsichtbare, aber deswegen nicht weniger eindringliche, scheinbar Tag- und Nacht andauernde Parade auf den Straßen Belgrads bemerkbar. Das Musikgeräusch wird zum treuen Begleiter und unsichtbaren Bewacher der Handlung. Überall hört man die Partisanenlieder (wie heutzutage die Meldungen über die „Flüchtlingskrise“), die das Vergangene glorifizieren und die Lieder, die die Partei und den Volksführer Tito feiern. So wird die Kontrolle der Partei, die in den Bildern nur sporadisch zum Vorschein kommt, auf indirekte Weise angedeutet. Die diegetisch abgespielte Musik wird meistens gegen die Handlung eingesetzt, insbesondere dann wenn sie die Liebesbeziehung zweier Protagonisten untermalt. Denn auch die intimsten Momente werden von der revolutionären Musik begleitet.

 

In der einleitenden Sequenz hören wir ein Kinderlied und ein Liebeslied. Ahmed, Isabela und ihre Freundin laufen zu dritt über die Straße auf der die Unordnung und der Lärm herrschen. Es wird gearbeitet und gebaut. Das Baustellen-Motiv kommt in jugoslawischen Filmen aus dieser Zeit oft vor. Denn die Gesellschaft befindet sich im Prozess der Veränderung, des Aufbaus, des Neuanfangs. (Ähnlich wie in den Filmen des italienischen Neorealismus wird an den Originalschauplätzen gedreht: es ist realistisch, senkt die Produktionskosten.) Auch die Liebesbeziehung von Ahmed und Isabela befindet sich erst am Anfang und muss zunächst „aufgebaut“ werden.

 

 

Das Leben ist eine Baustelle

 

Die Rolle der ethnischen Zugehörigkeit

 

Die mehrheitlichen Völker in Jugoslawien waren Serben und Kroaten. Man sagte, dass die Beziehungen zwischen den zwei Völkern entscheidend und richtungweisend für die Zukunft, für das Weiterbestehen und für das friedliche Miteinander in Jugoslawien seien. Ende der 1980er Jahre wird sich zeigen, dass dies stimmen könnte.

 

Die Liebe zwischen Ahmed und Isabela ist auch die Liebe zwischen einem bosnischen Muslim und einer katholischen Ungarin1, vermutlich aus Vojvodina, dem Grenzgebiet zu Ungarn. Während die Figuren in Petrovićs Skupljači perja (I Even Met Happy Gypsies, 1967) nicht durch ihre Namen, sondern durch die Sprache und Kleidung (und nur mit Mühe) „identifizierbar“ sind, und der Zuschauer selbst herausfinden muss „wer ist wer“, thematisiert Makavejev die nationale Angehörigkeit viel unmittelbarer, schon bei der Namensgebung (in Der Mensch ist kein Vogel wird beispielsweise die Liebesgeschichte des Slowenen Jan und der Serbin Rajka erzählt). Denn die Namen der Protagonisten setzten einiges voraus. Isabela und Ahmed stehen hier für das jugoslawische Experiment: sie werden ein Land gemeinsam bauen und gestalten, ein Land mit vielen verschiedenen Völkern, Traditionen und Kulturen. Es soll zusammenwachsen, was zusammengehört. Oder auch nicht. Makavejev seinerseits bringt die Liebenden zusammen, und wieder auseinander.

 

Ahmed und Isabela sprechen beide serbokroatisch, wobei das nicht die Muttersprache von Isabela ist. Sie leben in Belgrad, in der Hauptstadt Jugoslawiens und sind beide zugezogen. Sie arbeitet bei der Post, er ist Sanitärinspektor, ein „Rattenfänger“. Sie scheint liberal und offen zu sein, er ein treuer Kommunist, konservativ und ziemlich verklemmt. Sie sind also ganz unterschiedlich. Ihre Nationalangehörigkeit machen sie gelegentlich selbst zum Thema. Es ist kompliziert.

 

Der begeisterte Ahmed spielt ein deutsches Lied auf seinem Grammofon. Die Schallplatte ist das Geschenk eines DDR-Genossen. Es handelt sich um den Zeit-Marsch (Sang der Gesänge) des russischen Dichters Wladimir Majakowski, in deutscher Übersetzung von Hugo Huppert, gesungen von Ernst Busch2. Warum spielt Ahmed die deutsche Version eines russischen Liedes? Es ist wieder ein für Makavejev typischer, rätselhafter Einfall, in dem sein ironischer Blick auf die Welt und das Weltgeschehen zur Geltung kommt.

 

1 Die Muslime wurden 1971 als eines der sechs gleichberechtigten konstitutiven Völker/Nationen Jugoslawiens (neben Kroaten, Serben, Slowenen, Montenegriner, Mazedonier) anerkannt.

 

2 Die Musik stammt von Hanns Eisler.

 

 

 

Es ist das Jahr 1967, 22 Jahre sind nach dem Ende des 2. Weltkrieges vergangen. Die deutsche Sprache ist immer noch ein Synonym für Faschismus, Totalitarismus und Krieg. Und die DDR blieb ohnehin weiter totalitär. Die Ungarn wie Muslime haben im 2. Weltkrieg mehrheitlich an der Seite der Deutschen gekämpft. Aus der Treue zu den Deutschen wurde die Treue zu den Siegern, zu den jugoslawischen Kommunisten. Ob der Übergang zum Sozialismus die Haltung der Menschen, die auf der anderen Seite gekämpft haben, veränderte? So kann man hier das russische revolutionäre Lied, das in deutscher Sprache ausgeführt wird, als Mittel der Kontinuitätsherstellung betrachten, die in beide entgegengesetzte Richtungen wirkt und das Totalitäre der neuen Machthaber zur Schau stellt.

 

„Serbian Cutting“ / Seitensprung und „Pornofilm“

 

Statt die Sexszene mit Isabel und dem Postboten (Ljuba Moljac) zu zeigen, schneidet Makavejev einfach den kurzen „Aufklärungsfilm“ rein, in dem man sieht, wie die Geschichte in etwa weitergelaufen sei. So funktioniert das Pornofilmchen als effektvolle Ersatzszene. Der praktische Nutzen des Vorgangs: Makavejev muss die aufwendige Sexszene nicht mehr drehen, und spart nebenbei Zeit, Geld und Nerven der Schauspieler.

 

Makavejev soll sich von den „deutschen Pornofilmen“ inspiriert haben, die er in den 1970ern in Oberhausen in den dortigen „feinen Kinos“ gesehen haben soll.

 

 

Oh, wie süß ist Liebe!

 

 

Makavejev liebt sie, die sprechenden Stickereien: Die Liebe ist süß.

Ahmed und Isabel zum ersten Mal in ihrem Zimmer.

 

Die emanzipierte Isabel möchte den verklemmten Ahmed ins Bett locken. So sagt sie, dass sie Lust

aufs Fernsehen hätte, denn es „liefe gerade etwas Gutes“.

Der Film, der tatsächlich im Fernsehen läuft, ist nicht das, was man sich unter „etwas Gutes“,

zumindest in dieser Situation, vorstellen würde. Nein, es ist kein romantischer Liebesfilm, sondern vielmehr ein sowjetischer Film über den Sehnsucht- und Ursprungsort aller sozialistischen Paraden,

die Oktoberrevolution. Es läuft Die Donbaß Sinfonie (1930) von Dziga Vertov. Man sieht Menschenmassen, die in eine Kirche eindringen und alles mitnehmen (oder kaputtschlagen), was sie können. Die Musik im Film unterscheidet sich nicht viel von der Musik die man ständig, auch hier,

in Isabels Wohnung, bei offenem Fenster, hört. Man kann sich anscheinend von der Revolution nirgendwo verstecken und alleine sein, auch nicht in intimsten Momenten.

 

3An den Feiertagen wurde die revolutionäre Musik gespielt, am 1. Mai, am Tag der Republik, am Tag der Jugend…Tito sagte einmal: „Wir werden so leben, als würde es den Krieg nie geben, wir müssen aber ständig bereit sein, für einen neuen Krieg.“

 

 

 

 

Episoden „außerhalb“ der Handlung

 

Die Szene in der Isabel die Pita, den serbischen Kuchen, backt, könnte aus einer Koch-Fernsehsendung oder aus einem Dokumentarfilm stammen. Denn Makavejev lässt sich Zeit und dokumentiert den kompletten Vorgang der Vorbereitung und des Backens. Es ist eine Sequenz, in der das Dokumentarische imitiert wird. Das Pita-Backen hat hier etwas Erotisches, und die Folge ist die Schwangerschaft der Isabel. Die Szene mit dem Einbau der Dusche ist ähnlich. Auch dort sehen wir den ganzen Vorgang des Einbauens. Die Szene bleibt zwar spannend, denn wir wissen nicht, wann und wo Isabel ermordet wurde. Es passierte nichts Dramatisches, und nichts für die Handlung Relevantes: die neue Dusche wurde eingebaut, und das Leben ging weiter. Die beiden Szenen sind äußerst liebevoll, ästhetisch gedreht.

 

 

 

Das Kartenlegen als Wissenschaft

 

Neben allen Experten, die mit ihren Namen, Berufsbezeichnungen und Funktionen, formal von der Haupthandlung getrennt auftreten, liefert Isabels Freundin und Arbeitskollegin eine spezielle Expertise ab: das Kartenlegen. Der Aberglaube spielt auf dem Balkan eine wichtige Rolle. Das Kaffeesatzlesen ist beispielsweise noch heute weit verbreitet und gehört zum Tagesablauf vieler Frauen. Es ist eine Beschäftigung, die irgendwo zwischen Zeitvertreib und „Wissenschaft“ anzusiedeln ist. „Untersucht“ werden die Aussichten in wichtigsten Bereichen des Lebens: Liebe, Gesundheit, Arbeit, Eigentum... Die Freundin sagt Isabel die Zukunft voraus: es gibt einen neuen Mann in ihrem Leben und sie wird Ahmed ganz sicher und unausweichlich untreu. In der nächsten Einstellung sehen wir „ihren Neuen“, den eindringlichen Postboten. Isabel wehrt sich gegen das „Schicksal“ und sagt, dass sie „das nicht wolle“, denn schließlich sei sie „verliebt“. Der Widerstand ist vergeblich und zwecklos – die einfache, durchaus übliche, verallgemeinerte „Voraussage“ der Freundin wird real. Man kann sich fragen: Ist Aberglaube stärker als Wissenschaft, oder ist Wissenschaft zum Teil ein Aberglaube?

 

Der eindringliche Postbote macht es sich unter Titos Bild bequem. Ist Tito etwa sein Beschützer?

Hat der Präsident auch hier alles unter Kontrolle?

 

Isabels Beichte

 

Isabel macht Seifenblasen und schaut plötzlich direkt in die Kamera. So macht sie etwas, was nur den Experten im Film vorgehalten ist. Sie sagt, als würde sie ihre Beichte schon im Voraus ablegen wollen: „Ich kann es nicht mehr aushalten, ich werde fremdgehen.“

Das Sprechen eines Protagonisten direkt in die Kamera hat immer etwas Intimes. Es ist die Grenz-überschreitung, denn auf diese Weise dringt die Figur in den Zuschauerraum ein und bricht das wichtige Tabu: die Konvention über die klare Teilung zwischen der äußeren und der filmischen Realität.

 

 

 

 

Das Ende der Affäre

 

Die Hauptfiguren scheitern, anscheinend war die Bindung nicht stark genug. Ahmed will sich umbringen, weil er das Verlassensein nicht ertragen kann. Am Ende stirbt Isabela und Ahmed wird zum Mörder. Obwohl es kein Mord war, sondern ein Unglück.

 

Makavejev lässt am Ende des Films Isabel wiederauferstehen (wie Milena Dravić in W.R. Mysterium des Organismus). Das glücklose Liebespaar darf es noch einmal versuchen.

 

 

Zweiter Versuch genehmigt: Die Liebe zwischen Ahmed und Isabela, genauso wie das Projekt Jugoslawien, verdient eine zweite Chance!

 

 

 

Schön, dass ihr da ward. Bis zum nächsten Mal!

*Film stills are for study purposes only